Hamburger Thesen

Hamburger Thesen (verabschiedet 2007) - Aktualisierung der Kasseler Thesen von 1997 

Selbstverständnis

Menschen in Notfallsituationen beizustehen, ist unverzichtbarer Bestandteil christlichen Glaubens. Notfallseelsorge ist eine Form dieses Beistands.
Sie ist damit ein Grundbestandteil des Seelsorgeauftrages der Kirchen und ist in ihrem Grundsatz ökumenisch ausgerichtet.
Notfallseelsorge richtet sich an alle Menschen und achtet das Recht auf Selbstbestimmung und die religiöse und weltanschauliche Orientierung der Betroffenen.

Die Seelsorge im Angesicht von Leid und Tod ist von jeher wesentlicher Bestandteil des seelsorglichen Auftrags der Kirchen. Dabei galt die christliche Zuwendung für Menschen, die in existenziellen Krisen stehen, immer schon deren leiblichen und seelischen Nöten gleichermaßen.
Die Notfallseelsorge steht in dieser diakonischen Tradition und gehört zum seelsorglichen Auftrag der Kirchen. Sie aktualisiert die christliche Tradition, allen Menschen in Not beizustehen. Dies geschieht unter den besonderen Bedingungen und in den außergewöhnlichen Situationen eines Unglücks, in denen die klassischen seelsorglichen Angebote und Strukturen der Kirchen nicht oder erst verzögert greifen. Notfallseelsorge ist somit eine unerlässliche, ergänzende Form kirchlicher Seelsorge.

Auftrag

A) Handlungsraum
Notfallseelsorge ist Zuspruch der Zuwendung Gottes an den Menschen in Not. Sie wird konkret in der Präsenz des Seelsorgers, der Seelsorgerin vor Ort und dem Angebot einer helfenden Begleitung in der Akutphase.

Notfallseelsorge geschieht in der Zuwendung zu dem von Unheil betroffenen Menschen und im solidarischen Aushalten seines Leides. Sie nutzt die Grundlagen, Erkenntnisse und Methoden der Theologie und Pastoralpsychologie sowie der Humanwissenschaften.
Darüber hinaus eröffnet Notfallseelsorge einen Raum für Spiritualität. Im Angebot von Gebet, Ritus und Segen wird sowohl der Trauer als auch der Hoffnung Ausdruck verliehen und der Beginn von Heilung ermöglicht.

Notfallseelsorge bietet Schutzraum und Gestaltung für:

  • den Umgang mit dem Gefühl der Ohnmacht,
  • das Fragen nach eigener und fremder Schuld,
  • das Frage nach dem Sinn des Ereignisses und des Lebens überhaupt,
  • religiöse Fragestellungen in Grenzsituationen,
  • Umgang mit den Gefühlen bei Trauer und Abschied,
  • die Bearbeitung traumatischer Erlebnisse,
  • das kollektive Betroffensein bei und den kollektiven Umgang mit Notfällen insbesondere durch Trauer- und Gedächtnisgottesdienste

B) Anlässe

Indikationen für die Begleitung Betroffener durch die Notfallseelsorge sind in erster Linie:

  • Tod im häuslichen Bereich,
  • Überbringen von Todesnachrichten,
  • Tod und schwere Verletzungen von Kindern,
  • Unfälle,
  • Brände,
  • Suizid,
  • Gewaltverbrechen,

 

Notfallseelsorge leistet ihren Dienst stellvertretend für die Seelsorger und Seelsorgerinnen der Ortsgemeinden. Je nach Möglichkeit und Art des Ereignisses kann sie an die Gemeindeseelsorge oder andere Hilfsangebote vermitteln.Für die weitere seelsorgliche Begleitung nach dem unmittelbaren Einsatzzeitraum verweist die Notfallseelsorge an Seelsorger und Seelsorgerinnen vor Ort. So bleibt die Notfallseelsorge in ihrer Arbeit auf die Seelsorge in den Gemeinden bezogen und wird von dieser solidarisch getragen.

Besondere Arbeitsfelder

C) Notfallseelsorge in besonderen Lagen

Bei größeren Schadenslagen bis hin zu Katastrophen im In- und Ausland kann sich Notfallseelsorge an der Begleitung Betroffener beteiligen und lässt sich dabei in die örtlichen Konzepte zur Bewältigung der Schadenslage einbinden.

Notfallseelsorge arbeitet auch in besonderen Lagen mit anderen Professionen im Rahmen der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) zusammen. Mit entsprechender Qualifikation können Notfallseelsorger und Notfallseelsorgerinnen hier auch Führungsaufgaben übernehmen.
Nach Unglücksfällen im Ausland, von denen deutsche Bürger und Bürgerinnen betroffen sind, Können Notfallseelsorger und Notfallseelsorgerinnen auch dort zur Begleitung eingesetzt werden.
Sie arbeiten mit den zuständigen Auslandspfarrern und -pfarrerinnen sowie den örtlichen Stellen zusammen.

D)Seelsorge in Feuerwehr, Rettungsdienst und Katastrophenschutz

Aus der seelsorglichen Begleitung bei Notfällen ergibt sich auch die seelsorgliche Begleitung der Einsatzkräfte in Feuerwehr, Rettungsdienst und Katastrophenschutz.

Einsatzkräfte gehören bezüglich möglicher seelischer Belastungen zu den Berufsgruppen, für die ein eigenes seelsorgliches einsatz-, berufs- und lebensbegleitendes Angebot der Kirchen vorhanden sein muss.
Dazu sind gesonderte Qualifikationen, Ressourcen und Beauftragungen erforderlich.

 

Bereiche der Seelsorge für Einsatzkräfte sind z.B.:

  • Präsenz auf den Wachen im alltäglichen Dienstbetrieb,
  • Gottesdienste und Amtshandlungen,
  • Aus- und Fortbildung,
  • Prävention und Nachsorge,
  • Gremienarbeit,
  • Beratung der Organisationen im Bereich PSNV,
  • Beratung der Einsatzleitung bei Einsätzen,
  • Unterstützung der Einsatzkräfte bei größeren Einsätzen,

Rahmenbedingungen

E. Organisation der Notfallseelsorge
Die Notfallseelsorge ist in örtlichen Rufbereitschaften organisiert und in die Alarmierungsstruktur von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst eingebunden. Sie wird üblicherweise über deren zuständige Leitstellen alarmiert.

Notfallseelsorge vernetzt sich mit PSNV-Kräften anderer Organisationen und Institutionen vor Ort und überregional.
Die Kirchen benennen Beauftragte für Notfallseelsorge auf ihren unterschiedlichen Organisationsebenen.
Die Landeskirchlich Beauftragten für Notfallseelsorge sind in der "Konferenz Evangelische Notfallseelsorge" (KEN) organisiert.

F. Qualifikation

Grundlage notfallseelsorglichen Handelns ist eine kirchlich verantwortete Seelsorgeausbildung, die durch fachbezogene Fortbildungen ergänzt wird.

Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Notfallseelsorge sind gehalten, sich nach erworbener Qualifikation in diesem Arbeitsbereich ständig weiterzubilden und supervisorische Begleitung der eigenen Tätigkeit wahrzunehmen.
Aufgrund von erworbenen Qualifikationen in der Begleitung von Menschen in Notsituationen (z.B. durch Telefonseelsorge, Hospizarbeit, psychologische Ausbildung) können die Kirchen auch Menschen, die nicht zu der Gruppe der hauptamtlichen Seelsorger und Seelsorgerinnen gehören, mit dem Dienst in der Notfallseelsorge und Seelsorge in Feuerwehr, Rettungsdienst und Katastrophenschutz betrauen.
Notfallseelsorge und Seelsorge in Feuerwehr, Rettungsdienst und Katastrophenschutz geschehen in engem Austausch mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen.

 

Konferenz Evangelische Notfallseelsorge in Deutschland
Hamburg, den 12. September 2007