Kasseler Thesen

Thesenreihe zur Notfallseelsorge (verabschiedet 1997)

Notfallseelsorge ist "erste Hilfe für die Seele"in Notfällen und Krisensituationen.

Notfallseelsorge ist damit ein Grundbestandteil des Seelsorgeauftrages der Kirchen. Sie sieht den Menschen in Not und Bedürftigkeit, in Schwäche und Schuld als ein von Gott getragenes, geliebtes und auf Hoffnung hin versöhntes und erlöstes Geschöpf.

Notfallseelsorge wendet sich in ökumenischer Weite und Offenheit an primär Geschädigte, andere Betroffene und an Einsatzkräfte.

Seelsorge in Notfallsituationen nimmt ernst, dass bei den Menschen in existentiellen Extremsituationen die faktisch wirksamen religiösen und weltanschaulichen Prägungen offenbar werden. Notfallsituationen sind Schnittstellen des Lebens, an denen Sinn- und Wertfragen aufbrechen, der eigene Lebensentwurf und seine schlagartige Veränderung besonders bewußt werden, Schuld- und Theodizeefrage die Gegenwart überschatten und die Lebenskraft absorbieren.

Seelsorge für Einsatzkräfte in Extremlagenbegleitet die Einsatzkräfte in ihrer Arbeit, vor allem bei einem akut zusammenbrechenden Retterbild, das einhergeht mit Gefühlen von Versagen und Hilflosigkeit, Ohnmacht und ggf. Angst und hilft im Anschluß an das Einsatzgeschehen, belastende Eindrücke, die sich in die Seele eingebrannt haben, zu verarbeiten.

Die Arbeit der Notfallseelsorge geschieht im wesentlichen durch Beziehung und Kommunikation, seelsorgerliches Gespräch und Präsenz des Seelsorgers, der Seelsorgerin vor Ort.

Konkrete Tätigkeiten des Notfallseelsorgers vor Ort können sein:

  • Beleitung von unverletzten Beteiligten
  • Begleitung von Verletztenwährend der Rettung und in Wartezeiten 
  • Begleitung von Angehörigen,die am Einsatzort sind und dahin kommen 
  • Fürsorge für erschöpfte Einsatzkräfte
  • auf Wunsch Spende der Sakramente und Gebet für Sterbende und Tote
  • Überbringung von Todesnachrichtengemeinsam mit der Polizei

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kirchlichen Arbeit in Feuerwehr, Rettungsdienst und Katastrophenschutz professionalisieren ihre seelsorgerliche Kompetenzin extremen Arbeitsfeldern, um Einsatzkräfte an den Einsatzstellen unterstützen zu können bzw. die seelsorgerliche Begleitung nach dem Abrücken der Einsatzkräfte weiterführen zu können, vor allem bei folgenden (häufigeren) Einsatzindikationen:

  • erfolglose Reanimation
  • Tod von Kindern
  • Suizidabsicht/Suizid
  • schwere Verkehrsunfälle

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Notfallseelsorge erwerben sich seelsorgerliche und theologische Kompetenz und insbesondere Kenntnisse und Fähigkeiten über

  • Reaktionsformen von Menschen in Not- und Extremsituationenund das mögliche Eingehen darauf 
  • Gefahren an der Einsatzstelle (Erkennbarkeit, Selbstschutz, Schutzausrüstung) 
  • organisationsübergreifende Zusammenarbeit (Arbeitsweisen und Zusammenwirken von allen am Einsatz beteiligten Organisationseinheiten und die eigene Mitwirkung)

Sie halten engen Kontakt zueinander und reflektieren ihre Erfahrungen regelmäßig in Fortbildungen der Notfallseelsorge. Für den Dienst ist Supervision unabdingbare Voraussetzung.

Die Notfallseelsorge entwickelt regional Strukturen, die mit den Gegebenheiten von Kommune und Kirche kompatibel sind.

Die beteiligten Kirchen sprechen geeignete Beauftragungen aus auf den Ebenen der Kirchenkreise, Dekanate und Landeskirchen, Bistümer und kommen für die Personalkosten auf.

Die Notfallseelsorger organisieren sich auf Bundesebene in einem Konvent.

Diese Thesenreihe wurde verabschiedet von Vertretern von Notfallseelsorgediensten aus verschiedenen Landeskirchen und Bundesländern auf der Tagung der Bruderhilfe-Verkehrsakademie in Kassel am 5.2.1997 und beschreibt die gemeinsamen Essentials der unterschiedlich organisierten und geprägtenNotfallseelsorgedienste.